Tour 2019
Im Sommer 2019 fand zum ersten mal die Radtour „Gemeinschaft Erfahren“ statt. Zu neunt fuhr eine passionierte Forschungsgruppe innerhalb von 10 Tagen von Freiburg nach Frankfurt und hat auf dem Weg 13 Orte besucht, an denen Menschen gemeinschaftlichen leben oder wirken. Im Folgenden fasst Robin Dirks seine Erlebnisse zusammen.
Welche Prinzipien ermöglichen eine lebendige, heilsame und echte Begegnung in Gemeinschaft?
„Heilsam ist nur wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft“ – Rudolph Steiner
Zur ersten Auflage von Gemeinschaft Erfahren begab ich mich auf die Suche nach wesentlichen Prinzipien, die eine Annäherung an die Frage ermöglichen, wie eben genau das möglich wird, dass sich sowohl „der Einzelseele Kraft“ in der Gemeinschaft entfalten und sich die Gemeinschaft in dieser widerspiegelt. Im Folgenden gebe ich ein paar Momentaufnahmen und Anekdoten der Tour wieder, um abschließend meine persönlichen Kernprinzipien zusammenzufassen. Viel Spaß!
1. Tag: EOS-Villa Mez
07. Juni: Start der Tour bei der EOS Villa Mez. Im prächtigen Park empfängt uns Michael Birnthaler, Leiter von EOS Erlebnispädagigk. Mit ihm ergründen wir was eine „Kultur des Herzens“ ausmacht. Wir testen in einem herausfordernden Vertrauensspiel unsere Koordinationsfähigkeit als Gruppe und anschließend erkunden wir, was eine Wesensbegegnung zwischen zwei Menschen ermöglicht. Michael teilt mit uns anschauliche Geschichten und unsere Kultur des Herzens wurde zunehmend lebendig. Es war ein sehr anregender Start für unsere Gruppe und bot viel Gesprächs- und Reflexionsmaterial.
2. Tag: Permakultur Dreisamtal
07. Juni, Permakultur Dreisamtal: Wir kommen abends an und grillen im Regen. Übernachten können wir in einer Scheune. Hier heißt uns Ronny willkommen, der uns am nächsten Morgen die drei Kernprinzipien der Permakultur (Earth Care, People Care, Fair Share) tanzend beibringt. Bei einer Führung lernen wir den Waldgarten kennen und seine Herausforderungen eine dauerhafte Gemeinschaft zu etablieren, die sich dem Ort verschreibt – unter anderem aufgrund der abgeschiedenen Lage.
3. Tag: Bergfritzenhof
08. Juni: Übernachtung und gemeinsames Abendessen beim Bergfritzenhof, einer urigen, familiengeprägten Gemeinschaft auf dem Lande. Sie hat zusammengefunden, um ihren Kindern ein gutes Leben in der Natur zu ermöglichen. Tobias und Patricia erzählen uns abends von den Herausforderungen der Gemeinschaft: dass sehr unterschiedliche Bedürfnisse bestehen würden, wie „tief“ sich mit Gemeinschaftsprozessen auseinandergesetzt wird. Für sie sei es wesentlich, dass sie mehrmals im Jahr verschiedene Events planen, zum Beispiel ein Kinderfestival, bei dem jede Hand benötigt wird. Konflikte lösen sich oftmals im gemeinsamen Schaffen für dieselbe Sache auf.
4. Tag: Kloster Strasburg
09. Juni (Pfingstsonntag): Kloster Strasbourg.
Das Kloster Église Sain-Jean wurde nach einer langen Wüstenerfahrung des Bruder Pierre gegründet, der in der Einsamkeit feststellte, dass Gott eigentlich "am meisten bei den Menschen und unter den Menschen“ zu finden sei. Nach seiner Rückkehr empfand er anonyme Großstädte als "Wüsten der Moderne". Um dem entgegen zu wirken wurde das Kloster mitten in Strasbourg gegründet. Bis heute steht es für mehr Gemeinschaftlichkeit mitten in der Stadt ein und ist Treffpunkt für die Nachbarschaft mit Kindergarten und offenem Park.
Prägend für die Klostergemeinschaft ist selbst verständlich der geteilte Glaube und die Hingabe und Suche nach Gott. Diese gemeinsame Ausrichtung wirkt sehr lebendig. So haben bei mir die hingebungsvoll gesungenen Lieder während der Vesper (Nachmittagsgebet) Gänsehaut ausgelöst. Außerdem sind die Mönche hier ziemlich jung und gar nicht dogmatisch; meine Neugier wird wach und ich beginne mich zu fragen was das Geheimnis von diesem Kloster ist, einen Ausdruck katholischer Spiritualität zu finden, mit der sogar ich etwas anfangen kann.
Eine bezeichnende Anekdote erzählt uns Schwester Pascale: für einige Zeit lebte bei ihnen im Kloster ein Gast, der sehr willkommen aufgenommen wurde. Eines Tages war er plötzlich verschwunden, und mit ihm der Computer von dem Kloster. Doch statt ihn des Diebstahls anzuklagen, wurde ihm schnell verziehen. Pascale sagt, Vertrauen zu schenken habe für sie einen höheren Wert, als das was ihnen genommen wurde.
Eine weitere überraschende Anekdote ereignet sich beim Abendessen. Dieses wird sonntags stets in Stille eingenommen, während Kirchenmusik gehört wird. Ich saß einem jungen Mönch aus den Philippinen gegenüber, der offensichtlich von der Musik gelangweilt war. Er stellte mein Schweigen auf die Probe, indem er regelmäßig Grimassen schnitt. Als ein Lied kam, bei dem ein Chor ein klagendes Haleluja sang, imitierte er den Chor auf eine Weise, dass es so wirkte, als müsse der Chor jeden Moment niesen: „ha-ha-ha…leluja“. Es fiel mir schwer nicht loszuprusten.
Nach dem Abendessen setzen wir uns mit den Brüdern der Klostergemeinschaft noch für ein Gespräch zusammen – diese andächtige Runde bleibt für mich das berührendste Gespräch der gesamten Tour. Mit einer tiefen Aufmerksamkeit nehmen sich die Mönche unsere Fragen wirklich zu Herzen. Jede der Antworten wird von Pascale übersetzt und dennoch braucht es diese Übersetzungen oft gar nicht, um die Bedeutsamkeit der Worte zu spüren. Eine Geschichte hat mich besonders berührt, in der ein Mönch erzählte, warum er sich nach einer „Begegnung mit Gott“ dem Klosterleben zugewandt hat. Es sagte „für mich ist das Leben hier keine Entsagung sondern ganz im Gegenteil die Suche nach mehr Lebendigkeit… die Achtsamkeit mit mir und mit Gott lässt mich jeden Tag echter und ehrlicher werden – alle Hüllen fallen vor Gott von mit – und so kann ich auch anderen Menschen authentischer begegnen“
5. Tag: Die Mühle
10. Juni: Die Mühle. Stärker hätte der Kontrast kaum sein können: nach dem Kloster geht es in ein anarchistisches Projekt, das bereits seit 40 Jahren besteht. Dieser wird beim Essen besonders deutlich: während im Kloster beim Abendessen eine hohe Achtsamkeit herrscht, fängt man in der Mühle mit dem Essen an, sobald es auf dem Teller ist - warten ist spießig.
Hier hat mich beeindruckt, wie solidarisch sich die Gemeinschaft gegenüber Randgruppen zeigt und ihren aktivistischen Anspruch im Alltag lebt. Einer der Gründer erzählt uns eine berührende Geschichte davon, wie sie einen vereinsamten ALS-Patienten aufnahmen, versorgten und ihm ein würdevolles Ableben ermöglichten.
6. Tag: "Ruhetag"
11. Juni: Übernachtung in der Natur und Geburtstagsfeier von Katharina. Nach einer ziemlich anstrengenden Bergetappen schlagen wir unsere Zelte an einem magischen See auf und schaffen es mit Mühe und Not ein wärmendes Feuer mit dem nassen Holz zu starten. Fürs Frühstück finden wir eine nahegelegene Berghütte, wo wir uns Zeit für unseren eigenen Gruppenprozess nehmen. Eigentlich war dieser Tag als Ruhetag gedacht, ist letztlich aber von einer wirklich anstrengenden Bergetappe geprägt, die wir nur aufgrund heiterer Gespräche überstehen.
7. Tag: Pferde Bewegen Menschen
12. Juni: Pferde bewegen Menschen, Gernsbach. Als wir ankommen, geht gerade die Sonne unter und bei einer Hofführung zeigt sich der Ort von seiner schönsten Seite: ein wirklich idyllischer Ort!
Auf dem Weidenhof von Frauke leben und arbeiten vor allem Langzeitfreiwillige. Es gibt viele Rituale, die das Gemeinschaftsleben bewusst stärken, wie ein täglicher Morgenkreis, gemeinsames Abendessen und regelmäßige Filmabende. Wir begegnen hier einer Haltung der Achtsamkeit und des Raumgebens, die auch den Tieren entgegengebracht wird. Der Ort ist von sehr organischen Strukturen und Formen geprägt.
Beim Abendessen entsteht eine fröhliche Dynamik – Teller werden hin und her gereicht und mit einer Vielzahl leckerer Dinge befüllt. Die Gespräche gehen schnell tief – wir philospohieren darüber, wie durch Achtsamkeit wirklich authentische Synergien entstehen können, sodass sich Beiträge einzelner Teile zu etwas größerem Ganzen zusammenfügen.
8. Tag: Reinighof
13. Juni: Reinighof, Bärenbach.
Ein Sprung in den kühlen Quellfluss und dann im Sonnenuntergang Wildsalat sammeln, sich von dem rieisigen Kräutergarten betören lassen und den Abend mit ganz viel Spinat und gerösteten Cashews feiern… beim Reinighof, der bereits seit über 40 Jahren besteht, haben wir uns sofort willkommen gefühlt. Abends durften wir an einem Workshop zum „Heilenden Singen“ teilnehmen, anschließend gab es noch ein Feuer. Hier fiel der Abschied schwer – die Gruppe wäre gern noch länger geblieben.
13. Juni, Schreibreflexion am Rheinstrand.
9. Tag: 13Ha Freiheit
14. Juni: 13 Ha Freiheit, Mannheim. In gemütlicher Runde sitzen wir in einem ganz normalen Wohnzimmer, einer ziemlich normalen WG. Bloß das Gemäuer ist recht außergewöhnlich: eine ehemalige Kaserne, die zu einem Wohngebäude mit mehreren separaten Wohnungen umfunktioniert wurde. Hier treffen wir ein bekanntes Gesicht, den Helmut. Schnell sind die Gespräche sehr vertraut, es wird ehrlich über die Herausforderungen des Projektes geredet. Es scheint, als sei die Vision von einst zunehmend zerfasert; Träume sind zerplatzt und hehre Ambitionen wurden von vielen aufgegeben. Inzwischen ist das Projekt für viele vor allem ein günstiger Wohnort ist, aber es ist unklar, wofür die Gemeinschaft als Ganze noch steht. So wurden Diskussionen immer langatmiger und Konflikte werden über Email ausgefochten. Gleichzeitig beobachten wir in den Details auch einen starken Zusammenhalt; zum Beispiel erzählt Veronica, dass sie einmal in die Gruppe geschrieben hatte, dass sie Windeln brauche und hatte am nächsten Morgen gleich mehrere Packungen vor der Tür liegen.
Fahrt durchs Gestrüpp.
10. Tag: Layenhof
15.06.: Ankunft im Wohnprojekt Layenhof: Der Grillplatz ist der zentrale Treffpunkt für die beiden Wohnhäuser des dieser doch eher bodenständigen Nachbarschaftsgemeinschaft. Hier trinken wir das erste Mal Bier und auf dem Grill liegt sogar Fleisch. Die Stimmung ist sehr ausgelassen und entspannt. Eine Qualität, die in dieser Gemeinschaft sehr lebendig ist: Wohlwollen. Es wird darüber hinweggesehen, dass sich nicht immer alle an der Gemeinschaft beteiligen und auch, dass es einige gibt, die ständig rummotzen. Das sei nicht weiter schlimm, sagt Vincent, der sich mit über 60 Jahren noch auf das Wagnis „Gemeinschaft“ eingelassen hat.
11. Tag: Dottenfelder Hof
16. Juni: Ankunft beim Dottenfelder Hof. Als wir ankommen geht bereits das Aufräumen los, nach dem großen Hoffest, dass dort heute stattgefunden hatte, zu dem über 2000 Gäste gekommen sind. Wir können uns schnell einbringen, beim Putzen, Abspülen und Aufräumen. Anschließend findet draußen im Innenhof eine wilde Tanzparty statt – wir feiern ausgelassen, dass wir die Tour bewältigt haben. Am nächsten Tag fahren wir nach Frankfurt, wo wir uns mit dem Verlag von Info3 treffen. Hier runden wir unsere Tour mit einem Schreibworkshop ab. Unsere Erfahrungen fließen in den Leitartikel der September-Ausgabe mit dem Titel "das Neue ist schon da"
Zusammenfassung
Zusammengefasst lassen sich für mich drei Prinzipien ableiten, die ein gutes Fundament für das Gelingen von Gemeinschaft bilden könnten:
1. Es braucht eine gemeinsame Ausrichtung, einen geteilten Zweck, in dem sich jedes Individuum widerfindet und gleichzeitig die Bereitschaft sich diesem höheren Zweck zu verschreiben.
2. Es braucht regelmäßige Räume des "Sich-sehens" in denen sich die Gemeinschaft trifft, begegnet und einander wahrnehmen kann.
3. Das Schöne am Leben feiern! Der Zweck von Gemeinschaft wird am Ende nur dann erfüllt, wenn sie zu einem freudvolleren Leben beiträgt – es also Momente gibt, wo man einfach Spaß hat.
Für mich persönlich sind viele neue Fragen aus der Tour entstanden. Mich reizt es, tiefer in das Thema Heilung und Wirksamkeit einzusteigen. Wie können Gemeinschaften bestehende gesellschaftliche Muster und kollektive Traumata sichtbar machen und hieraus zukunftsgestaltende Impulse entwickeln, die in den größeren Gesellschaftenontext wirken?
Ich freue mich auf die nächste Tour!
Robin
Fotos: Robin Dirks und Theresa Dulon