Geschichten 2020

Hier eine Auswahl der längeren, ganz verschiedenen Geschichten, die im Rahmen der Forschungs- und Erlebnisradtour Geschichten Erfahren 2020 entstanden sind. Alle anderen Geschichten findet ihr hier: Rückblick & Ernte 2020.

Einen großen Dank an alle Schreibenden, und viel Spaß beim Lesen!


Ein großer Keks ist eine schwere Last

In einer Zeit, als die langsamste Radgruppe stets die schnellste war, kam Felix als einer der Weitgereisten wie zu erwarten als Erster an der Grillhütte an. Verlassen und kalt lag sie im Schatten da. Verrußte Auberginenscheiben in der Grillstelle und vom Wind immer wieder   aufkommende   Bierfahnen   zeugten   von   der   geselligen,   feier-fröhlichen Atmosphäre der letzten Partygesellschaft an der Grillstelle am vorhergehenden Abend. Nun hatten sie aber einen eher abstoßenden Effekt. "Dann richte ich schon einmal die Dusche, dann freuen sich die anderen, wenn sie ankommen", meinte Felix zu sich selbst. Beherzt   holte   er   den   gelben   Gartenschlauch   aus   der   Hütte  und   machte   sich  am

Wasserhahn in der Damentoilette zu schaffen.

Da stieg ihm plötzlich in beißender Geruch in die Nase. Lodernd standen die Flammen bereits über der Grillhütte, als er um die Ecke der Toilette blickte. Wie war das möglich? Gerade eben hatte noch alles kalt und verlassen gewirkt. Wie hatte das Feuer in Gang kommen können? Ein Windstoß? Versteckte Glut unter der Asche? Egal! Es brannte!!

Felix fing hektisch an, nach seinem Handy zu kramen, doch es war nicht in seiner Hosentasche. "Zum Kuckuck!", fluchte er und eilte zurück in die Damentoilette. Dort lag es auch nicht.

Da   tippte   ihm   jemand   von   hinten   auf   die   Schulter.   Es   war   ein   Mann   in Feuerwehrmontur. "Feuerwehrhauptmann Helge, Feuerwehr Witzenhausen! Zur Stelle an der Grillstelle!" – "Gut, dass Sie da sind", erwiderte Felix sichtlich erleichtert. "Ich wollte Sie gerade rufen. Es brennt! Aber – woher wissen Sie von dem Feuer? Es muss gerade eben erst passiert sein!" – "Natürlich wissen wir davon!", meinte Helge forsch, "Schließlich haben wir das Feuer selbst gelegt – und vor 4 Tagen ordnungsgemäß angemeldet." – "Wie? Was? Angemeldet?" Felix war komplett verwirrt und vergaß darüber hinaus, den Wasserhahn zuzudrehen. Gerade wollte er noch etwas fragen, da sprang das Funkgerät von Feuerwehrhauptmann Helge an. "Helge?", krächzte es von irgendeinem anderen Ort her. "Ja, Holger?", antwortete Helge. "Helge, Einsatz am Gleis. Hier ist ein Zug. Keene Ahnung, wo der jetzt herkommt. Hier fährt doch sonst nüscht." – "Alles klar, Holger, wir kommen." – "Alles klar, Helge."

"Los! Wir müssen los!", forderte Helge Felix mit einer Handbewegung auf. "Wie? Ich?", fragte   Felix   verwirrt.   "Na   klar,   du."   Felix   wusste   nicht,   wie   er   in   diese   Sache hineingeraten war, aber da er auch nicht wusste, was er mit dem Feuer machen sollte, sein Handy verschwunden blieb und ihm nun auch noch einfiel, dass er versäumt hatte, aufzupassen, dass der Boden der Damentoilette nicht nass wurde, schien ihm ein Ortswechsel gar nicht so unangebracht.

Zusammen eilten sie zum Feuerwehrauto. Helge startete den Motor, wobei gleichzeitig irritierenderweise Hip-Hop-Musik aus dem Radio ansprang. "Good Music!", meinte Helge mit einem Augenzwinkern, dann trat er aufs Gaspedal. Sie kurvten durch die engen Straßen von Witzenhausen. Niemand begegnete ihnen, die gepflegten Vorgärten

flogen links und rechts neben ihnen vorbei, der Wagen legte sich scharf in die Kurven.

Felix klammerte sich am Haltegriff über der Tür fest. 

"Helge?", ertönte plötzlich das Funkgerät. "Ja, Holger?", antwortete Helge. "Helge, wo seid ihr denn?", Helge sagte nichts. "Wo fahren wir hin? Sind wir falsch?", fragte Felix besorgt. "Nimm' dir 'nen Keks", sagte Helge nur kurz angebunden und deutete auf das Handschuhfach. Felix kam das mächtig seltsam vor, doch weil die Ansage so direkt gekommen war, wagte er nicht zu widersprechen und öffnete das Handschuhfach, worin er eine gehörige Sammlung an Spruchkeksen vorfand. Wahllos griff er zu und nahm sich

einen. "Lies vor!", forderte Helge.

"Ein großer Keks ist eine schwere Last." "Na, das hätte er ja gleich sagen können", sagte Helge genervt und wendete den Wagen abermals. In der nächsten Sekunde kamen ihnen zwei Polizeiautos entgegen und rasten an ihnen vorbei in die entgegengesetzte Richtung. "Müssen wir da nicht hinterher?", fragte Felix, jetzt sichtlich besorgt um den Einsatz, da er sich nicht mehr sicher war, ob Feuerwehrhauptmann Helge wusste, was er tat und dessen Methoden ihm – nun ja –

i-n-t-e-r-e-s-s-a-n-t vorkamen.

"Pssst", meinte Helge nur. Und zählte leise vor sich hin. "1...2...3." Beim fünften Hofladen, an   dem   sie   vorbeifuhren,   verschwammen   plötzlich   die   Konturen   außerhalb   des Feuerwehrautos und Felix meinte zu vernehmen, dass auch die Räder des Autos für einen kurzen Moment den Bodenkontakt verloren.

Im nächsten Moment – keiner weiß, wie es geschah – tauchte außerhalb des Autos eine neue Landschaft auf – fast wirkte sie poetisch – wäre da nicht der große, hell erleuchtete Zug gewesen, der sich quer über den Acker erstreckte und dort gestrandet zu sein schien und die drei Ackerbesetzer, die ein wenig ratlos hinsichtlich dieser bizarren Situation auf dem Acker standen.

"Grüß euch, Leute", meinte Helge beim Aussteigen, "Wie ist die Lage?" "Wir kochen hier nur vegan", erwiderte Ihr-könnt-mich-Lukas-nennen. "Ach manno!", Felix ärgerte sich, denn er hatte sich an diesem Abend auf ein leckeres

Fischbrötchen gefreut. Das alles wurde ihm allmählich wirklich zu viel.

"Blubb!!!“

„Fischbrötchen?",   ertönte   da   von   weitem   eine   feine,   weibliche   Stimme.  Über   der Hügelkuppe tauchte die Silhouette eines Esels nebst Reiterin auf. Im hellen Licht der Zugfenster entdeckte Felix voller Erstaunen, dass die Mähne des Esels aus Heringen bestand. Bei näherer Betrachtung und dem Geruch nach schien der Sattel tatsächlich aus

Remoulade   zu  sein.   In   den   Haaren   der   jungen   Frau  selbst   leuchteten   zahlreiche Silberfischchen. "Fischbrötchen?", meinte sie lächelnd und beugte sich zu Felix von ihrem Esel herunter, in der Hand tatsächlich ein Fischbrötchen haltend. "Ich war eben noch im hessischen Landtag, aber bei Fischbrötchen sage ich nie nein. Ich bin Prinzessin Makrele. Steig auf!" – Felix war sehr angetan von dem leckeren Fischbrötchen und der freundlichen Prinzessin. Und da es ihm auf dem Acker nicht wesentlich bleibenswert erschien, packte er sich einen Schal ein und wollte sich auf dem Esel setzen.

"Ich fürchte, dass wir beide für ihn zu schwer sind. Aber du kannst den Oktopus nehmen." Felix war bis dahin nicht aufgefallen, dass sie auch noch von einem Oktopus begleitet wurde, aber tatsächlich schwebte er neben ihm. Felix machte es sich auf dem Sattel aus scharfem Senf bequem. "Ich muss den anderen aber noch über Telegram, Signal und Threema Bescheid geben, wo ich bin und ich habe mein Handy verlegt", erklärte Felix gerade der Prinzessin, als – "I'm here!" – plötzlich ein kleiner blauer Kugelblitz über den Ackerboden wirbelte. "I'm here, I'm here, I'm here!" – Ein kleines Kleinwesen wirbelte mit Felix' Handy in der Pfote über den Boden, machte aber keine Anstalten anzuhalten, sondern sauste geradewegs an ihnen vorbei über die Hügelkuppe

und auf der anderen Seite hinunter. Das stetige hallende Tönen wurde immer leiser. "I'm here, I'm here, I'm here..."

"Na dann, hinterher!", rief die Prinzessin Makrele und Esel und Oktopus setzten sich in Gang. Über viele, viele Hügel und viele, viele Anhöhen und viele, viele Schotterwege führte sie ihr Weg in dieser ungewöhnlichen Nacht nach Kassel zu den GrimmWelten.

Und bis sie dort waren, war es auch schon wieder Tag. "Wahrscheinlich ist das Kleinwesen hier rein in die Ausstellung", meinte Felix und machte Anstalten, den Oktopus durch die Türe des Museums zu führen. "Halt! Stopp! Der muss draußen bleiben! Tinte ist in der Ausstellung strengstens verboten!", meinte die diensthabende Aufsicht. "Aber sie können diesen Leihbleistift haben." Verdutzt nahm

Felix den Leihbleistift entgegen, als der Oktopus, der bis dahin noch gar keine Geräusche von sich gegeben hatte, einen Laut machte, der – wenn man es nicht anders wüsste – wie "Pissnelke!" klang. Tatsächlich erschien der Oktopus sehr aufgebracht, denn er fing nun auch noch an zu zittern, seine bläuliche Haut verfärbte sich, erst zu lila, dann zu rot-

orange. "Nichtsnutz! Sauhaufen! Grobian, Almdudler...", stieß der Oktopus immer weiter hervor. Plötzlich schnellte einer seiner Tentakel hervor und ehe sich Felix versah, hatte der Oktopus Felix den Leihbleistift aus der Hand geschlagen und mit einem weiteren Tentakel in hohem Bogen über das Dach der GrimmWelt geschleudert, wo er im Himmel außer Sichtweite verschwand. "Das war doch nur ein Leihbleistift!", meinte Felix beunruhigt. Der Leihbleistift aber flog weiter, über die Kasseler Berge und in den Bergpark, wo ihn schließlich der Herkules im Flug fing und diese Geschichte aufschrieb, ganz so, wie sie sich nun mal ereignet hat. Denn was tun nackte, gut gebaute Kerle aus Stein denn sonst?

Und die Moral von der Geschicht'? In Witzenhausen gibt sie's nicht.

Felix Jacubasch, Regina Kleißler & Imke Horstmannshoff

Der Zettel

Es begab sich vor gar nicht allzu langer Zeit, als Umweltaktivist *innen ein Projekt nach dem

anderen initiierten, Radfahrende autobegeisterte Menschen von der Freiheit des Radfahrens zu

überzeugen suchten und auch in öffentlichen Behörden der Umweltschutzgedanke langsam Einzug hielt.

Da lag ein Zettel träge im Zettelkasten von Frau Zettel. Er hatte schon leicht gelbliche Ecken und am linken Rand ein wenig blaue Druckertinte. Er langweilte sich schrecklich. Er hatte zwar noch viele Brüder und Schwestern gehabt, doch die waren längst im großen Rundordner und später in der Müllverbrennung gelandet. Sie wurden beidseitig bedruckt und somit konnte sich Frau Zettel mit den Zetteln nicht mehr verzetteln. Nur der eine Zettel im Zettelkasten war übrig geblieben von dem großen, in dreifacher Ausführung ausgedruckten Konzept zur "Papiereinsparung in der öffentlichen Verwaltung". Die blaue Farbe an seinem Rand stammte von der Überschrift  "Verwendung von zweiseitig bedrucktem Papier zum Zweck der Ressourcenschonung" . Im Zettelkasten von Frau Zettel lagen zwar noch andere Zettel, doch im Gegensatz zu ihm konnten sie nicht denken und vor allem nicht sprechen. So konnte der Zettel sie nicht nach ihrer Herkunft, ihrer Geschichte und ihren Zukunftsträumen fragen. Und er konnte sich auch sonst nicht z.B. über Sinne und Unsinne im Leben im Allgemeinen und im Besonderen unterhalten. Der Zettel träumte davon, noch mehr von der Welt zu erfahren und einmal eine wichtige Rolle zu spielen. Als er noch als Teil eines großen Blattes Papier auf dem Schreibtisch von Frau Zettel lag, hörte er aus dem ständig dudelnden Radio, dass es noch wesentlich spannendere Dinge gibt als die von Frau Zettel leise vor sich hin gemurmelten Worte zum Papiersparkonzept. Doch der Zettel war ein bisschen verzagt. Über ihm lag noch ein Zettel, der zwar etwas kleiner war aber sicher noch vor ihm aus dem Zettelkasten geholt werden würde.

Eines Tages, der Morgen begann schon zu dämmern, wurde der Zettel von Frau Zettel aus dem Zettelkasten geholt. Sollte endlich das große Abenteuer beginnen? Zwischen Daumen und Zeigefinger trug Frau Zettel den Zettel quer über den Flur. Eine Türklinke knarzte, der Lichtschalter knackte und ach, so hatte der Zettel sich sein Leben und sein Ende nicht vorgestellt. Was er sah, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Doch auch am anderen Ende des Flures knarzte eine Tür. Frau Zettel legte den Zettel beiseite und ging zurück in den Flur. Den entstandenen Luftzug nutzte der Zettel, um aus dem weit geöffneten Fenster der Toilette zu flattern.

Eine ganze Weile segelte er so vor sich hin bis er ganz sacht auf der Wiese hinter dem Haus landete. Ein kleiner Spatz sah ihn, trippelte zu ihm und pickte ein wenig an seinem Rand, prüfend, ob sich das weiße Etwas auf der Wiese als Baumaterial für sein Nest eignete. Leise schlich sich die Katze des Nachbarn an. Mit leicht peitschendem Schwanz, den Körper flach an den Boden gedrückt, die Ohren gespitzt, wartete sie auf den passenden Moment, sich den Spatz zum Frühstück zu holen. Doch ein leiser Wind ließ den Zettel ein wenig flattern und der Spatz flog erschrocken davon. Die Katze ließ ein verärgertes Knurren hören, entschloss sich dann jedoch, dieses wackelnde Ding genauer zu begucken. Langsam kam sie heran, immer wieder in Lauerstellung verharrend und sprang mit einem Satz auf den Zettel. Erstaunt stellte sie fest, dass der Zettel sich nicht bewegte aber leider auch nichts zu fressen war. Ein bisschen spielte sie mit ihm, schüttelte ihn hin und her, schlug vorsichtig mit den Tatzen nach ihm und trollte sich, als es ihr zu langweilig wurde. Der Zettel war froh, denn das ganze Gewackel und Geschüttelt hatte ihn ganz schwindlig gemacht.

Als der Zettel so im Gras in der Morgensonne lag, merkte er mit einem Mal, dass er ganz weich und irgendwie durchsichtig wurde. Würde er jetzt unsichtbar werden oder sich womöglich auflösen? Der blaue Strich auf seiner linken Seite war schon ein bisschen verschwunden. Wie würde sich das anfühlen, sich ganz und gar aufzulösen? Würde es weh tun? Würde irgendetwas von ihm übrig bleiben? Doch die immer höher steigende Sonne trocknete das Gras schnell und auch der Zettel trocknete, war nicht mehr halbdurchsichtig und nur die leicht gekräuselten Ränder erinnerten an den Tau des frühen Morgens. Mit einem ganz klein bisschen Wehmut erinnerte sich der Zettel an das trockene und sichere - wenn auch langweillige - Leben im Zettelkasten von Frau Zettel. Eine ganze Weile lag er so im Gras, sinnierte und philosophierte, ob das träge Leben im Zettelkasten oder das lebensbedrohliche in der Freiheit das bessere wäre und welchen Preis das eine wie das wert sei. Gerade als er eine Ahnung von einer passenden Antwort hatte, näherte sich ihm ein großer Schatten mit ohrenbetäubendem Lärm. Mit einem Mal von einem heftigen Luftstrom erfasst wirbelte der Zettel auf und blieb an einer Hecke hängen. Mehr als einen Meter über dem Boden sah er nach unten und wusste nicht wie ihm geschehen war und was er nun machen sollte. Doch ihm wurde bewusst, dass die Antwort auf seine vorherige Frage Zettelkasten oder Freiheit "Freiheit" war und so vertraute er darauf, dass auch dieses Mal alles gut gehen würde. Langsam gewöhnte er sich an die Höhe und schaute sich vorsichtig um. Erst nur ein kleines bisschen, denn er wusste nicht wie fest der in dieser Hecke hing. Doch als nichts Schlimmes geschah, richtete er seinen Blick weiter nach oben und schaute sich um soweit er konnte. Da waren viele Blumen, eine große Hecke, ein Sandkasten und ein riesengroßer Baum. Alles kam ihm irgendwie bekannt vor. Jetzt fiel es ihm ein und er erinnerte sich. Als er noch als Teil eines Blattes auf Frau Zettels Schreibtisch lag, hatte er diesen Blick auf dem großen Bild in Frau Zettels Arbeitszimmer gesehen. (Frau Zettel arbeitete aufgrund einer großen Pandemie im Homeoffice.) Der Zettel freute sich, als er etwas Bekanntes und damit auch etwas Beruhigendes sah. Und genau wie auf dem Bild funkelte die Sonne durch die Blätter des großen Baumes ganz links in seinem Blick. So hatte er sich Freiheit vorgestellt. Doch schon wieder gab es Aufregung. Ein Mensch näherte sich der Hecke. Mit Entsetzen stellte der Zettel fest, dass es Frau Zettel war. Jetzt, da er sich gerade für die Freiheit entschieden hatte, sollte er etwa wieder in den Zettelkasten von Frau Zettel zurück? Doch der Zettel steckte fest in der Hecke und so sehr auch versuchte zu zappeln und frei zu kommen - er konnte sich nicht lösen. Frau Zettel schnitt einen Rosenzweig mit vielen kleinen üppig blühenden Rosen von der Hecke ab, schüttelte den Kopf über die Unachtsamkeit der Menschen und steckte den Zettel in ihre Tasche. Wieder in der Wohnung stellte sie den Rosenzweig in eine kleine Vase und suchte in aller Eile nach einem Blatt Papier. Da erinnerte sie sich an den Zettel in ihrer Tasche und da sie kein anderes Papier fand, nahm sie den Zettel aus ihrer Tasche. Mit etwas ungelenker Handschrift - Frau Zettel schrieb ihre Konzepte als Umweltbeauftragte mit dem PC, um sie dann in dreifacher Ausführung an die anderen Abteilungen weiterzugeben - schrieb sie "Ich liebe dich" und legte den Zettel sachte mit der rechten oberen Ecke unter die Vase. Der Zettel war sich nicht sicher, ob das noch zur Kategorie „Freiheit“ zählte oder doch schon dicht am eingesperrt sein im Zettelkasten war. Oder ob es seine Berufung war, eine solch große Nachricht zu überbringen.

Plötzlich blendet ihn grelles Licht. Er bemerkt, dass er noch immer in Frau Zettels Zettelkasten liegt. Doch das oberste Blatt war verschwunden. Und wenn er nicht vergilbt und vor Traurigkeit ganz mürbe und faltig geworden ist, dann haben sich die Träume des Zettels in naher Zukunft doch noch erfüllt.

Jutta Buczinski

Musik erfahren

Die E-Mail erreichte meinen Freund und mich wie durch Zufall. “Kommt mit uns auf eine zehntägige Radtour zum Thema “Musik erfahren”! Wir wollen uns aus vielen unterschiedlichen Richtungen dem Thema “Musik” nähern und spannende Orte und Menschen kennenlernen. Vorerfahrungen sind keine notwendig!”. Ich hatte nicht nach einer Reise für unsere gemeinsame Urlaubszeit gesucht, aber als ich sie fand, war schnell klar, dass wir mitfahren. Das Thema sagte uns erstmal nicht viel, war aber auch so weit gefasst, dass wir natürlich unsere Anknüpfpunkte daran hatten. Was uns genau erwartete, blieb aber offen.

Am Tag der Anreise fuhren wir mit dem Zug nach Kassel, um eines der geliehenen E-Lastenräder für mich abzuholen. Ich fühlte mich, als wäre ich noch nie Fahrrad gefahren: Hier war der Hang zu steil, dort die Straße zu schmal oder die Kurve zu eng; ständig schlingerte ich und drohte umzukippen. Zu allem Überfluss belud mich mein Freund auch noch mit seinem ganzen Gepäck, schließlich waren es ja noch gut 30 Kilometer bis zum Treffpunkt!

Nach einigen Streitereien, wie sie oft auftauchen, wenn man sich plötzlich zu zweit organisieren muss und noch nicht geklärt ist, wer die erste und wer die zweite Geige spielt, waren wir allerdings wieder ein harmonisches Team und hatten unseren Spaß auf der Fahrt. Trotzdem kamen wir als letzte am Eschenhof in Altenhasungen an, wo die anderen schon zu Mittag gegessen und ihre Zelte aufgebaut hatten. Nach einer weiteren Stunde Sammelpause saßen schließlich zwölf erschöpfte und neugierige Menschen auf der Wiese im Kreis und begannen unter der Leitung der Organisator/-innen Robin und Imke, sich kennenzulernen. Eine der ersten Übungen war, herumzugehen und den Menschen, die wir treffen, Fragen zu stellen. Eine dieser vorgegebenen Fragen war: “Welches Musikstück verbindest du mit deinen Sorgen?”. Die Person, der ich diese Frage stellte, sang daraufhin eine alte Weise, die ich sofort erkannte. Ich hatte diese Melodie auch im Kopf gehabt, bloß in einer anderen Sprache gesungen! Verbindungen entstanden mit allen, die ich so traf, und es entstand ein Raum, in dem wir uns sicher fühlten, unsere Lieder zu singen.

Als nächstes trugen wir zusammen, welche Fragen und Erwartungen wir zu der Fahrt und ihrem Thema hatten. Einige meiner Fragen waren: “Wo in meinem Leben kann ich mehr Musik einbinden?”, “Was kann Musikmachen in ungewöhnlichen Kontexten bewirken?” und “Was unterscheidet das Musikmachen vom Geschichtenerzählen?”. Die anderen hatten ganz andere Fragen: “Wie lerne ich, besser Geige zu spielen?” oder “Wie funktioniert nicht-lineare Musik?” zum Beispiel. Dadurch weitete sich mein Blickwinkel auf das Thema ungemein und wir beschlossen, diese Weite auf der Fahrt zu behalten und offen zu sein für alles, was wir lernen könnten. Es folgte noch eine Orga-Runde und nach einem leckeren Abendessen und den letzten Schlafvorbereitungen krochen wir alle sehr gespannt in unsere Zelte, um zu schlafen.

Die Nacht im Zelt war kalt, aber der Morgen lockte mit Tai Chi in der Sonne und Porridgekochen in der warmen Küche. Gefrühstückt wurde draußen und bei frischem Brot, Tee und Kaffee aus dem Hofladen nebenan wurden bereits die ersten Lieder ausgetauscht. Um zehn trafen wir uns für einen aktivierenden Morgenkreis und dann begann auch schon der erste Workshop. Silvia brachte uns als Einstieg in ihr Thema ein orientalisches Stück mit, dass sie uns auf der Flöte vortrug; so fesselnd und ausdrucksstark, dass wir alle wie gebannt lauschten. Sie wollte uns nicht lange mit Theorie nerven und hieß uns, uns direkt in Zweiergruppen Lieder vorzutragen, die uns selbst einmal sehr bewegt haben und die wir gut kennen. Zu zweit wanderten wir also über den Hof und mussten immer unwillkürlich lächeln, wenn wir an einem anderen Paar vorbeikamen und ein Fetzen einer mit viel Gefühl gesummten Melodie zu uns herüberwehte. Als nächstes sollten wir die gehörte Melodie auf dem Xylofon oder der Blockflöte nachspielen, was sich als gar nicht so einfach herausstellte; sie veränderte sich dabei teils wundersam! Wir bekamen noch einige Tipps und Tricks, wie wir die Stücke ausschmücken können, und nachdem wir eine Weile geübt hatten, wurden wir Dreiergruppen mit anderen Personen eingeteilt. Nun ging es ans Vortragen!

Wir waren alle ganz schön aufgeregt, aber der Spaß, den wir beim Üben gehabt hatten und dass die anderen Stücke im Vorbeigehen alle so schön geklungen hatten, gab uns Mut für unser eigenes Vorspiel. Und was für eine Musik das war! Natürlich war kein Vortrag perfekt, aber jeder und jede hatte seine und ihre ganz eigene Art, die Töne zu verweben, und die “erprobterweise” berührenden Melodien taten ihr übriges. Das warme Gefühl und das neue Selbstvertrauen, das ich nach den Vorträgen hatte, begleiteten mich noch eine ganze Weile. 

Ob das wohl daran liegt, wie im Gehirn das Belohnungszentrum mit den spiegelbildlich aufgebauten Bereichen für Musik und Sprache verknüpft ist…?

Eva Hofmann

Die roten Kappen der Wölfe

Es war einmal eine Gruppe, die hat sich zusammen gefunden, um gemeinsam Geschichte und Geschichten zu erfahren, zu erleben, zu erzählen, zu schreiben und zu hören. Eines schönen Tages auf dieser langen, intensiven Reise fuhren sie zu den Helfensteinen. Helfen wie helfen? Oder helfen wie Elfen? Oder helfen die Elfen? Oder elfen die Helfen... ?

Als es langsam dämmert, die Gruppe steht noch immer auf dem Berg, fallen Jutta die sieben Zwerge und deren sieben Berge ein und stellt fest, dass ihre Gruppe  inzwischen gleich zweimal sieben Menschen zählt - wenn es auch keine Zwerge sind. Bis zum Vortag waren sie 13 und Jutta fragte sich, ob sie die 13. Fee ist und ob sie eine gute oder eine böse Fee sei.

Doch vor allem dämmert ihr jetzt, dass sie ihre Lampe für den Abstieg vergessen hat. Da sie nicht mehr ganz jung und schon ein bisschen wackelig auf den Beinen ist, entschließt sie sich, die Elfen auf den Helfensteinen zu lassen und allein den Berg hinab zu klettern. Doch der Weg zu ihrem trocknen und sicheren Zelt ist noch weit. Am Fuße des Berges entscheidet sie deshalb, sich allein auf den langen Weg zu machen und das Abendbrot für alle vorzubereiten. Sie stellt das Navi ein, steckt es in die vorgesehene Tasche an ihrem Rad und ab geht die wilde Fahrt den langen langen Berg hinab, den sie vor 4 Stunden erklommen hatten. Stockdunkel ist es inzwischen geworden und alle Orientierungspunkte sehen fremd und nie gesehen aus. Doch! An den Bahnübergang erinnert sie sich. Also weiter die Straße hinauf. Ein Abzweig nach links kündigt die unbeteiligte Stimme aus dem Navi an. Aber da ist nichts. Also weiter fahren, so ein Navi muss es doch wisssen. So fährt sie weiter und weiter bis sie zur Kenntnis nehemen muss, da ist nichts. Also umdrehen und den gleichen Berg wieder hinab rollen. Aus dieser Richtung muss der Abzweig rechts sein und ist sicher viel besser zu sehen. Doch da war nichts. Außer dem Bahnübergang, den sie heute Abend schon einmal passierte. Was nun? Würde sie je wieder nach Hause finden? Die Nacht ist dunkel, es wird langsam kalt, sie hat nichts zu essen und zu trinken, kein Mensch ist auf der Straße, den sie hätte fragen können, keine Telefonnummer im Handy, um die Gruppe wieder zu finden. Sie hat nichts außer ihrem Navigationsgerät, das sich scheinbar mit den Örtlichkeiten genauso wenig auskennt wie sie selbst. Nocheinmal das ganze Spiel; Fahrrad umgedreht, die Straßen rauf gestrampelt, die Augen offen gehalten. Und plötzlich ein Weg nach links, ein kleiner Weg. Ein Weg der aussieht, als wäre er ein Weg zu einem kleinen Hexenhäuschen. Doch oberhalb des Weges ist eine große Straße. Sie würde sie nach Hause bringen oder aber ins Jenseits, denn die Straße ist sehr befahren von kleinen Flitzern und großen Brummis. Wie froh ist sie als sie sieht, dass der Weg zwar nicht zu einem Hexenhäuschen führt, wo sie hätte ausruhen, vielleicht einen Lebkuchen essen und ein Schwätzchen mit der Hexe und Hänsel und Gretel halten können, aber immerhin nicht auf die große Straße führt. Über eine schmale Brücke geht es auf die andere Seite der Straße, wo sicher der Radweg sein wird. drüben angekommen steht sie auf einem nassen und modderichen Waldweg. Waldweg? Waldwege waren sie auf dem Hinweg nicht gefahren, erst recht keinen so steilen Waldweg. Aber sie baut auf ihre Vergesslichkeit und das wieder gewonnene Vertrauen in das Navi. Die Abbiegung nach links hatte es schließich auch eher gewußt als sie selbst. Und so strampelt und schnauft sie den immer steiler werdenden Waldweg hinauf. Sie schnauft und strampelt und strampelt und schnauft, der Waldweg wird schmaler, die Schottersteine werden größer und bald ist es nur noch ein schmaler Pfad und sie ist von nichts als mächtigen Bäumen umgeben. Es ist Vollmond, doch die Wipfel der Bäume versperren seinem Licht den Weg. Nur eine gespenstige "Beleuchtung" bleibt. Gespannt lauscht sie ins Dunkel. Es knistert und knackt, die Blätter rascheln, unter ihr rollen die Schottersteine beiseite, ein Käuzchen schreit. Immer wieder erinnert sie sich selbst, dass ihr nichts passieren kann, denn schließlich weiß niemand, dass sie gerade zu dieser Zeit hier ganz alleine lang gehen würde. Doch was ist das? Eine Stimme aus dem Wald. Mal lauter, mal leiser, die Worte nicht zu verstehen. Ein Mensch? Ein Notfall? Eine Falle? Sollte sie nachsehen? In ihr entbrennt ein Kampf zwischen Angst und Verantwortung. Tapfer geht sie weiter. Plötzlich funkeln sie grün leuchtende Augen an. Ein Wolf durchbricht das Dickicht. Ein zweiter folgt ihm. Am gegenüberliegenden Waldrand setzen sie sich und heulen gemeinsam den über den Baumwipfeln nicht mehr sichtbaren Mond an. Ein schaurig schönes Schauspiel, das ihr sicher wesentlich besser gefallen würde, wenn sie nicht mutterseelen alleine mitten im Wald stehen würde - ohne eigene Orientierung und ohne ein Ziel vor den Augen. Aus der einen Stimme wird ein Stimmengewirr. Mit jedem weiteren Schritt werden die Stimmen lauter, andere Geräusche kommen hinzu. Ihr gefriert das Blut in den Adern. Umdrehen? Weiter gehen?

Zum wiederholten Male macht der Weg, der inzwischen nur noch ein schmaler,  grasbewachsener, rutschiger Pfad ist, eine scharfe Kurve und Jutta denkt zum wiederholten Male, dass es doch nun endlich wieder ins Tal gehen müsste, diese Schufterei nun ein Ende hat und sie diesen gespenstigen Wald hinter sich lassen kann. Und so schiebt und schnauft und schnauft und schiebt sie der Biegung entgegen.

Doch was sie sieht ist nicht das Ende des Anstiegs sondern Rotkäppchen, das Äpfel mit roten und weißen Seiten mit 7 Wölfen  teilt. Ein Jäger und die Großmutter liegen im Gras, neben sich eine leere Weinflasche. Die 6 Geißlein knabberen an einem Kuchen, der aus Rotkäppchens Körbchen gekullert ist. Plötzlich ertönt Musik und wie an einer Kette aufgereiht ziehen sieben Zwerge vor ihr über den Weg. Hinter Schneewittchen läuft das siebente Geißlein. Mutter Geiß wiegt sich langsam mit dem tapferen Schneiderlein im Tanz. Auf seiner Schulter sitzen sieben Fliegen und wackeln verzückt mit den Beinen im Takt. Der König hat mit Rumpelstielzchen ein Feuer entfacht und kocht Erbsensuppe für alle während die Tauben Aschenputtel ein neues Kleid bringen. Aus der Andreswelt wird die Schneekönigin willkommen geheißen und die Stiefmutter steckt sich mit einem Kamm die Haare hoch, um vielleicht doch noch die Schönste im ganzen Land zu sein. Ein großer brauner Bär sitzt mit Schneeweißchen und Rosenrot im Arm wohlig brummend am Rand und beobachtet die Gesellschaft auf seinem Großen Bärenberg.

Jutta Buczinski

Ludolfshausen, 18.09.2020

Erzähl mal –

Was sucht sie nur, die fremde Frau? Liegt in unseren Gärten, atmet unseren Morgen,

verrückt unsere Möbel, treibt sich herum bei unseren Toten. Schreitet einher auf unserer

Landstraße – mittendrauf! - , die doch eigentlich nur für unsere Autos gedacht ist, und für

die der Stau-Umfahrer.

Was sucht sie zwischen den Hügeln, auf unseren Bänken, unter den Bäumen am

Straßenrand. Springt nur zur Seite, als, die Morgenluft zerschneidend, zwei große blaue

Gefährt herangerast kommen. Was sucht sie auf dem Feldweg, der zum Wald hinaufführt?

Was starrt sie an zwischen den Buchen, was starrt zurück?

Setzt sich zu den jungen Trieben, die im unbetretenen Streifen Gras wachsen, trocknet ihre

Flügel in der Morgensonne. Was sucht sie, wenn sie in die Ferne schaut, das Blättermeer im

Rücken, wenn sie unsere Kühe belauscht.

Was schwingt in ihr, was wirft sie hinein in die Welt, was fügt sich aneinander?

Die klare Morgenluft schläft noch in unseren Häusern, wir sind schon ganz wach, sitzen in

den Bäumen und krächzen ein Lied.

Über'm Horizon ein Schleier aus weiß, unsere kalten Nasen glühen im Wind, unsere

Bucheckern säumen den Weg, ein braunes Paar Schuhe versperrt ihn wie eine

Räuberbande. Ein heller Sonnenball erhebt sich über uns, und wir sind alle schon da.

Imke Horstmannshoff