Rückblick & Ernte 2020

Geschichten Erfahren 2020 - zwei kreative Rückblicke in einem

So viele kleine Schnipsel und große Facetten hatte diese Radtour zu bieten! Hier findet Ihr eine kreative Rückschau - in Form eines chronologischen Überblicks, kombiniert mit einer Sammlung aus kleinen Geschichtsvignetten und Reflexionen, die noch während und nach der Tour entstanden sind. Weitere Geschichten findet ihr hier.

Viel Spaß beim Lesen!

Rückschau

Tag 1: Ankunft, Auftakt & Kennenlernen

Am Eschenhof blühen die Sonnenblumen und eine riesige Kastanie spendet uns Schatten an diesem warmen Spätsommertag. Die hofeigenen Kühe mampfen munter ihr Heu. Deren Stall liegt zwar direkt neben dem einladenden Hofladen, aber unangenehm riechen tut es nicht. Imke und ich werden von Sophia herzlich willkommen geheißen, auch wenn sie über beide Ohren in ihrer Hofarbeit steckt. Meine Vorfreude steigt, während ich die Linsensuppe koche und Keksteller vorbereite: Wie wird die Gruppe wohl sein?

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Stück für Stück trudeln die ersten Menschen ein. Um 16:30 Uhr geht es dann offiziell los. Zunächst nehmen wir uns Zeit für eine persönliche Reflexion: Assoziativ schreiben wir alle Fragen auf, die uns gerade in den Sinn kommen. Dann suchen wir uns eine Frage aus und gehen in den Austausch darüber, warum uns gerade diese Frage interessiert. In einem großen Kreis teilen wir, welche Intentionen und Fragen wir während dieser Tour bewegen wollen. So entsteht ein vielfältiges Bild der Gruppe: Die einen wollen vor allem etwas über Erzähltechniken lernen, andere haben Lust auf Radfahren mit netten Menschen, wiederum andere suchen Inspiration für die eigene Arbeit, den Aktivismus oder den eigenen Lebensweg. Die Vorfreude steigt, genauso die Erschöpfung der Anreise. Nach einem ausgiebigen Abendessen gehen die meisten früh schlafen...

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Tag 2: Geschichtenworkshop mit Silvia Angel & Dörnbergmystik mit Klaus Fröhlich

Am nächsten Tag geht´s richtig los. Dieser beginnt mit einem Morgenkreis, um die müden Gemüter zu wecken. Dann beginnen wir mit einem ersten Workshop: Silvia Angel gibt uns eine sehr praxis-orientierte Einführung in die Kunst des Geschichtenerzählens. So lernen wir die Grundlagen dessen, was einen guten narrativen Bogen ausmacht und kommen direkt selbst ins Erzählen. Anhand persönlicher Erlebnisse erdenken wir Phantasiegeschichten, die wir in mehreren Schritten immer weiter ausmalen und verfeinern. Die so entstandenen Geschichten stehen Grimms Märchen in nichts nach.. !

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Nachmittags tauchen wir tiefer ein in die Mythen und Sagen der Region. Vom gebürtigen Dörnberger Klaus Fröhlich werden wir über den Dörnberg geführt - ein wirklich magischer Ort, der schon für die Kelten ein wichtiger Kult- und Ritualort war und dementsprechend viele Geschichten birgt. Wir genießen den Sonnenuntergang und lauschen Erzählungen von einem Felsen, der Wünsche erfüllt und einem alten Hund, der hier wieder zum Jungspund wurde. Als wir in der Dämmerung zum Eschenhof zurückradeln, bin ich erschöpft, aber auch glücklich darüber, wie viele reiche Eindrücke uns dieser zweite Tourtag beschert hat.

Robin Dirks

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Dörnberg-Geschichte

Im Frühjahr 2009 führten zwei Freunde und ich eine Gruppe der Vhs mit etwa 60 Personen über die Helfensteine und den Dörnberg. Als wir auf dem Rückweg, vom Hohen Dörnberg kommend am Fuß der Helfensteine entlang gingen, fragte mich Frau Kessemeier, warum ich dort oben nichts von der Kalendermarkierung für Frühlings- und Herbstanfang erzählt hätte. Ich war neugierig, diese Kalendermarkierung kannte ich nicht. Wir blieben stehen und sie beschrieb mir eine Felsformation die ich schon immer „Wiege der Sonne“ nannte. Unsere Beine waren zwar von der langen Wanderung schon schwer, aber ich bat sie mir das Kalender-Geheimnis dort oben zu zeigen. Wir stiegen also nochmal auf die Helfensteine. Ein junger Mann, der unser Gespräch verfolgt hatte fragte ob er mitkommen dürfe. „Selbstverständlich gerne . . .“ Frau Kessemeier zeigte auf die Wiege der Sonne und von welchem Platz aus man am 21. März und am 21. September den Sonnenaufgang direkt über der Wiege beobachten kann. An diesem Kraftort kamen wir natürlich ins Erzählen und auch der junge Mann, dessen Namen ich bis heute nicht kenne, zeigte tiefes Wissen um die Dinge, die man diesem Ort nachsagt. Schließlich machten wir uns auf den Weg zum Parkplatz am ehemaligen Jugendhof des Landes Hessen. Wir kamen an einem kleinen, würfelförmigen Felsen vorbei. Der junge Mann blieb nachdenklich stehen: „Ich habe bisher noch keinen Menschen erzählt was mir hier passiert ist!"

Uns erzählte er es . . .

„Zum Abschluss unseres letzten Schuljahres gingen wir auf Klassenfahrt zum Landesjugendhof auf dem Dörnberg. Wir kamen nachmittags mit dem Bus dort unten im Jugendhof an und als die Zimmer bezogen waren hatten wir Freizeit bis zum Abendbrot um 18:00 Uhr. Als wir vor die Tür traten faszinierte uns der Anblick der Helfensteine. Da mussten wir hin! Wir erklommen die Höhe, setzten uns auf diesen Felsbrocken und steckten uns eine Zigarette an. Wohlig paffend schauten wir ins Land und waren guter Dinge. Bis wir eine Gestalt erblickten, die in einem langen blauen Mantel mit goldenen Sternen den Berg hoch, auf uns zu kam. In der Hand trug sie einen dicken hölzernen Knüppel. Mit zornigen Augen stapfte sie an uns vorbei und bog dann nach oben ab, wo sie zwischen den Felsen verschwand. Wir hatten uns kaum wieder beruhigt, als zwischen den Felsen seltsame, beängstigende, klagende Geräusche erklangen. Solche Laute hatten wir noch nie gehört und wir bekamen es echt mit der Angst zu tun. Wir rannten so schnell wir konnten den Berg hinunter.

Viele Jahre später:

Ich hatte Didgeridoo spielen gelernt und mir kam der Gedanke, du könntest mal auf den Helfensteinen spielen. Ich fuhr auf den Dörnberg, als ich am Jugendhof aus dem Auto stieg stellte ich fest, dass ich für diese Höhe nicht warm genug angezogen war. Mein Diddgeridoo lag im Kofferraum, eingewickelt in eine große blaue Decke mit goldenen Sternen. Diese Decke benutzte ich als Mantel. So stapfte ich den Berg hinauf. Kurz unterhalb des Gipfels sah ich zwei Schuljungen rauchend auf einem Felsblock sitzen. Ich schaute sie streng an und ging, ohne ein Wort zu sagen, weiter. Oben, zwischen den Helfensteinen begann ich zu spielen. Dabei sah ich, wie die beiden Jungen, wie von Furien gehetzt den Berg hinab rannten. Wie ein Schlag durchfuhr mich die Erkenntnis . . . An diesem Ort habe ich mich selbst gesehen!“

Klaus Fröhlich

Tag 3: Tintenverbot & warme Gastlichkeit

Am nächsten Tag zieht es uns über die Hügel des Habichtswalds nach Kassel. Ein Besuch in der Grimmwelt führt uns das Leben und Wirken der Brüder Grimm vor Augen, und mit einem Mal finden wir uns in den Wunderwelten ihrer Märchen wieder, mit sprechenden Spiegeln und leider-nicht-essbaren Plastiklebkuchen. Diese Geschichten sind den Museumshüter*innen ein richtiger Schatz, und ihnen darf nichts hinzugefügt werden: Tinte ist in der Ausstellung verboten! Wir begnügen uns mit Leihbleistiften...

Kurz danach radeln wir nach Staufenberg. Ja, -berg! Die Etappe ist ganz schön fordernd, und doch schaffen wir es alle zu den gASTWERKen, einer Gemeinschaft & Kommune im Nordosten von Kassel, und im südlichsten Zipfel Niedersachsens. Dort machen wir es uns bei der Wärme des Ofens gemütlich und feiern abends den Tag, der hinter uns liegt.

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Tag 4: Berührung erlaubt!

Der vierte Tag. Wir können in einem Tanzworkshop mit Velia Hahnemann mit dem ganzen Körper an diesem Ort ankommen. Evas Textschnipsel spricht ganz für sich:

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Gemeinschaft, ein Tanzworkshop

Am Anfang suchen wir uns die Menschen, zu denen wir bereits eine Verbindung haben, Vertrauen spüren. Wir meinen: Was auch kommen mag, mit dir werde ich es schon aushalten können. Der eine bestätigt den anderen, und alles ist gut. Das Leben ist ein Abenteuer mit vielen angenehmen Momenten. 

Die Verbindung wird tiefer und gemeinsam kommen wir in Bewegung, finden eine Richtung. Wir achten aufeinander, mal führt der eine, mal die andere, aber meistens beide zusammen. Aber irgendwann ist der Bewegungsdrang der einen stärker als der des anderen; der erste Bruch, Entfremdung vom Wegbegleiter oder der Wegbegleiterin. Doch dann lernt man, die unterschiedlichen Tempi zu schätzen; des einen Bewegung, der anderen Beobachten. Und wir beginnen, uns auszuprobieren: Leiten, Folgen, Rennen, Ruhen, mit dir und mit anderen. Was für eine Freude, diese vielen Menschen! Ganz neue Arten der Bewegung tun sich auf! Wir sind zwar nicht für alle bereit, aber offen für das Spiel um der Verbindung willen. Gelegentlich fallen wir aus dem Rahmen; dann sehen wir von außen, von was wir Teil waren - und wieder werden, wenn das Persönliche wieder mit der Gruppe verschmilzt. Und das tut es, denn nur in ihrem Inneren können wir die Gruppe gestalten. Irgendwann kommen die Fremdzuschreibungen "Du bist doch die…!", "Du machst doch das…" und wir entscheiden, wie und wie weit wir diese Rollen annehmen und Erwartungen erfüllen. Oft fühlen wir uns von ihnen herausgefordert, zu Widerhandlung gereizt. Aber irgendein Bild entsteht immer, auch wenn es nur eine Momentaufnahme ist, und wer es interpretiert, wird immer ein Teil davon. Ein Glück, wenn es wohlwollende Beschreibungen sind, die wir hören; sie öffnen uns die Augen für ganz andere Facetten in dem, was wir tun.

Eva Hofmann

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Nachmittags und abends spitzen wir die Ohren: In einer Führung über das Gelände und einer abendlichen Lagerfeuerrunde dürfen wir aus erster und zweiter Hand die kleinen und großen Geschichten des Ortes und des Lebens in der Gemeinschaft erfahren.

Tag 5: Grillhütte in Unterrieden - Besuch von Oya & Filming for Change

Auf nach Unterrieden!

Ich finde es schrecklich, wenn eine Geschichte oder ein Buch mit “sie wusste noch nicht, wie heftig/furchtbar/noch viel grausamer als erwartet… es werden würde“ beginnt. An diesem fünften Tag war es zumindest für mich gut, nicht zu wissen, was auf uns zu kommt. 250 Höhenmeter fand ich durchaus respektabel aber es hieß, die wären über die ganze Strecke verteilt, also nicht weiter dramatisch. Ich, deren Lieblingsfach auf gar keinen Fall Geografie war, lernte nun ganz praxisnah, dass die Gegend um Kassel mittelgebirgig ist. Zuerst einen langen Berg hoch von dem der diestägige Streckenchef vorher sagt, er sei recht moderat und oben angekommen „ich wollte es Euch vorher lieber nicht sagen, wie lang und bergig er ist“  . Nach einer kleinen Abfahrt biegen wir auf eine Nebenstraße ab. Und nun geht das Dilemma los. Was als Fahrradweg bzw. kleine Straße auf der Karte ausgewiesen ist entpuppte sich als Schotterstraße, in der mindestens alle 250 Höhenmeter verpackt sind. Unendliche Meter um Meter ächzen wir diesen Berg hoch, viele Meter schiebend, weil es zu steil und auf den großen Schottersteinen zu beschwerlich ist.  Endlich, endlich oben angekommen. Endlich eine lange Abfahrt –  hoffte ich. Doch große Schottersteine, zwischen denen das Vorderrad hin und her springt, machen die Abfahrt für mich zu einem Horrortrip. Gelegentlich schiebe ich, um mich zu beruhigen. Und endlich, endlich habe auch ich es geschafft. Alle warten schon und trösten mich, weil ich ziemlich geschafft bin - mit unserem Tourgrundnahrungsmittel Schokokeks.  „Belohnt“ wird die Tortour mit einer langen rasanten Abfahrt auf asphaltierter ! Straße. Und während ich noch darüber nachdenke, ob diese tolle Abfahrt diese Quälerei rechtfertigt, sind wir auch schon in Witzenhausen. Das letzte Stück nach Unterrieden ist ein Kinderspiel. Heute steht nichts weiter im Plan außer einkaufen, schnippeln, kochen, chillen, Fußball spielen und „den lieben Gott einen guten Mann sein lassen“. Und das tun wir dann auch mit Hingabe. Evas Geigenspiel begleitet uns eine ganze Zeit.

Jutta Buczinski

Tag 6: Drei Generationen des Umweltaktivismus in Witzenhausen

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Tag 7: Die Unglücksfahrt & Ofengemüse

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Tag 8: Eschwege Institut - Schwellengang & psychologische Grundlagen

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Tag 9: Tour de Chill & Lagerfeuer mit Angelika

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Tag 10: Bäume pflanzen & Geschichten ernten

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Ludolfshausen, 19.09.2020

Wir sitzen im Gras und spüren dem Gewesenen nach,

hängen in den Bäumen und halten Ausschau nach der Zukunft.

Es waren einmal wir. Die wir an Orte kamen, die uns herausforderten, unsere Zelte

aufstellten, Matten ausbreiteten und es Zuhause nannten. Die wir Zettel aus unseren

Taschen fischten und daraus Geschichten formten, sie erzählten ohne Sicherheitsnetz.

Das Gras, die Bäume, den Himmel im Gepäck schwebten wir durch die Täler im Sinus-

Cosinus, die Beine immer nach

unten-

hinten-

oben-

vorne,

die Stirnen in Wind und Sonne.

Wir – die wir mit- und füreinander kochten, sangen, sorgten, abends am Feuer saßen, vom Rauch der Rauhnacht umschwebt, und von all den Mythen, die wir uns zuflüsterten, von den geteilten Geschichten, mit denen wir unsere Gärten schmücken.

Imke Horstmannshoff