Vom Wohnprojekt zum Leuchtturm
Wie der Traum nachhaltig und gemeinschaftlich zu wohnen wahr wird. Ein urbanes Entwicklungsdrama am Beispiel des Wohnprojektes Wien.
Erich Kolenaty
Die Vision:
Am Anfang steht die Vision eines Pioniers: gemeinschaftlich Wohnen soll es sein, kommunikativ und partizipativ, in der Stadt gelegen, 20 Radminuten vom Zentrum Wiens, nachhaltig auf allen Ebenen, leistbar und dem Kapitalmarkt entzogen.
© Julia Quentel
Der Pionier beginnt Menschen für seine Idee zu begeistern und um sich zu sammeln, eine Gruppe von etwa 15 Menschen entsteht. Ein engagierter Architekt wird gewonnen. Weitere Ideen fließen ein, erste Pläne werden gewälzt. Aber es wird auch deutlich: es braucht mehr. Mehr Kraft und Entschlossenheit, vor allem aber einen gemeinsamen Traum, der die Gruppe vereint und ausrichtet.
Der gemeinsame Traum:
Plötzlich biegt „Dragon Dreaming“ um die Ecke. Dragon Dreaming ist ein bottom-up Projektentwicklungskonzept des Australiers John Croft, der just zu dieser Zeit in Mitteleuropa lebt und lehrt. Die Kernidee: Erfolgreiche Projekte verstehen es gemeinsam zu träumen, zu planen, umzusetzen und zu feiern.
Es fällt zu, dass die Pioniergruppe des Wohnprojektes den ersten Dragon Dreaming Projekt-Workshop, der in Österreich stattfindet, für sich bucht. Am Ende steht der gemeinsame Traum des „Verein für nachhaltiges Leben“: Klar, kraftvoll und mit den Grundzügen der Planung. Die wichtigsten Aussagen daraus: „Individualität in der Gemeinschaft“, „kommunikative Architektur“, „eine Keimzelle der Nachhaltigkeit“.
Detail am Rande: Alle Gruppenmitglieder, die nicht am Workshop teilgenommen haben, steigen in den nächsten Wochen und Monaten aus der Wohnbaugruppe wieder aus.
Die 5% Chance:
Fast zeitgleich ergab es sich, dass die Stadt Wien im Stadterschließungsgebiet auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofes im Zentrum Wiens, die nächsten Baulose in Bauträgerwettbewerben zur Ausschreibung brachte. Bei einem solchen Wettbewerb sind die Baulose speziell gewidmet: Als Eigentumsanlage, als sozialer Wohnbau, teilweise auch mit inhaltlichem Schwerpunkt.
Es fällt zu, dass der Verein mit der Schwarzatal Wohnbaugenossenschaft in Kontakt kommt. Man beschließt, sich gemeinsam für das Baulos „geförderter Wohnbau mit integrativem Wohnen“ zu bewerben. Ein Experte meint: „Geh, was tut’s euch das an, ihr habt eh nur eine 5 prozentige Chance“. In knapp 2 Monaten mit Tag- und Nachtarbeit entstehen ein architektonischer Entwurf, das wirtschaftliche Gerüst und ein soziales Konzept. Man beschließt auf der Liegenschaft zwei Gebäude zu errichten, eines für die Wohnbaugruppe, eines für die Wohnbaugenossenschaft. Garten und Tiefgarage werden geteilt. Zwei Tage vor dem Abgabetermin kommen Zweifel auf: Geht das? Wird das? Kann das Bestehen? Ach was, zu viel ist schon getan. Einreichen, Augen zu und durch.
Der Triumpf:
Dem Chronisten blieb verborgen, was genau bei der Jury den Ausschlag gab: die ungewöhnliche Kooperation? Die überzeugende Bauweise? Die Kombination von nachhaltigem und integrativem Anspruch? Die engagierte Präsentation? Wie auch immer: Das Wunder geschieht – Der Wettbewerb wird gewonnen und plötzlich steht ein Bauplatz im Zentrum Wiens, in Grünruhelage zu Bedingungen der Wohnbauförderung zur Verfügung. Wir notieren: du hast keine Chance, aber nütze sie!
Wohnprojekt Wien
© Hertha Hurnaus
Der lange Weg der Entwicklung:
Der Chronist hat sich im Herbst 2010 im Zuge der sogenannten „1. Aufnahmewelle“ in das Projekt integriert. Es ist vermessen, den Prozess der drei Jahre bis zum Einzug hier darstellen zu wollen. Drei Aspekte verdienen es trotzdem hervorgehoben zu werden:
Vielfalt:
Es ist wirklich herausfordernd, sich mit Andersartigkeit zu konfrontieren: In Alter, Lebensform, persönlichem Hintergrund und Erfahrung, Naturell. Man weiß, man kommt einander nicht aus, gleichzeitig ist es gewiss, dass man nicht alle lieben muss. Mit der Zeit lernt man: Einwände nerven nur kurz. Geduldig hinhören und Ehrenrunden lohnen und was anderswo Querulanten wären, sind hier Menschen, die die Gruppe vor groben Fehlern bewahren oder durch zusätzliche Gesichtspunkte beitragen, die Qualität zu verbessern.
Schon in der Planungsphase, aber noch viel mehr in der Zeit des gemeinsamen Wohnens zeigte sich wie großartig es ist, wenn für praktisch jedes Thema irgendjemand da ist, der Wissen oder Erfahrung mitbringt oder wenigstens Interesse hat sich einzuarbeiten. Das reicht vom Händchen für schwierige menschliche Situationen, der Liebe zum Garteln, dem Ausverhandeln von Stromverträgen bis zur Auseinandersetzung mit der Haustechnik.
Gemeinschaft leben:
Gemeinschaft leben erfährt und erlernt am besten, indem man Gemeinschaft lebt. Klingt ziemlich trivial und ein bissel tautologisch. Ich denke, dass uns dabei drei Dinge am meisten voran gebracht haben:
1. Regelmäßige Großgruppentreffen
50 Menschen sitzen im Kreis. Das klingt nach Basisdemokratie, nach stundenlangen fruchtlosen Diskussionen, nach Frust und Streit. Ist es aber nicht. Großgruppentreffen werden genau geplant und durchgängig von intern moderiert. Nur wenige, sehr bedeutende Fragen werden in der Großgruppe entschieden und diese Entscheidungen sind klug aufbereitet. Es bleibt viel Zeit für Information, Austausch, Feiern und den Spirit der Gemeinschaft zu erneuern.
2. Die Gemeinschaftswochenenden
Zweimal jährlich sind wir aufs Land gefahren. Mit Kind und Kegel, an schöne, kinderfreundliche Orte, einfach ausgestattet und leistbar. Meistens durfte die Arbeit zu Hause bleiben. Viel Zeit fürs Spielen, Tratschen, Ausflüge machen, Sporteln. Viel Zeit, um sich von anderen Seiten kennen zu lernen, mehr voneinander zu erfahren.
3. Die gemeinsame Arbeit selbst:
Ja, es macht einen Unterschied, ob man gemütlich beim Heurigen sitzt oder ob man in kleinen Gruppen kniffelige Fragen löst, von denen man weiß, dass das Ergebnis für alle relevant sein wird. Über die Jahre lernt man einander kennen – in guten und in schlechten Zeiten, mit allen Stärken und Schwächen.
Die Wirkung: als wir einzogen, waren wir bereits eine Gemeinschaft. Das hat uns bei den Mühen und Schwierigkeiten der ersten Wochen im unfertigen Haus massiv unterstützt. Und es hat sich prächtig angefühlt.
Gemeinsam planen:
Für den Chronisten ist es schon eine Herausforderung ein Zimmer einzurichten, geschweige denn die eigene Wohnung zu planen, bei der nur die äußeren Umrisse (ohne der Anzahl und Größe der Fenster) und die Lage der Eingangstür feststehen. Und jetzt sollen 50 Menschen 7 Gemeinschaftsräume (z.B. Gemeinschaftsküche, Bibliothek, Sauna, Spielraum, Gästeappartments) gestalten. Eine heroische Aufgabe!
Kleine Gruppen haben sich der Aufgabe gestellt: Das Ergebnis sind Räume mit ganz unterschiedlicher Charakteristik und Atmosphäre, die zum Eintreten und zum Beleben einladen und denen man anspürt, dass sie mit Herzblut gestaltet worden sind. Die wir mit Stolz herzeigen.
Woran ich persönlich schon in der Planungsphase beobachtet habe, dass es gut läuft: Am Ende des Tages bemerkt man am besten, ob es sich um ein energieverzehrendes oder ein energieschöpfendes System handelt. Ein energieschöpfendes System ist leicht zu erkennen: wenn man abends um 19:00 rechtschaffen müde zu einer Sitzung kommt und sie um 21:30 erfrischt verlässt. Es ist einfach fein im Gefühl wegzugehen „Es ist was weitergegangen und es war schön mit den anderen zusammen zu sein“.
Die Krisen:
Ohne Krisen geht’s nicht, sie kommen immer unerwartet und eigentlich erwünscht sind sie auch nicht. Erstaunlicherweise waren rückblickend gesehen beide große Krisen nicht hausgemacht, sondern kamen von außen auf uns zu.
Krise Numero 1:
Ein halbes Jahr vor dem Einzugstermin strauchelt der größte Baukonzern Österreichs, die Alpine Bau, in den Konkurs. Und wenn schon, was geht uns das an? Denkste: Unser Generalunternehmer ist ein edles Stück, aber ein Tochterunternehmen der Alpine und wird in den Strudel mit hinein gezogen. Wochenlanger Baustopp. Schreckensszenarien von Millionenverlusten tauchen auf. Wir werden den Fertigbau nie finanzieren können!
Aber siehe da, die Rettung naht. Wie die Hyänen umschleichen die Mitbewerber den Kadaver, um sich die Filetstücke aus der Konkursmasse zu krallen. So wird aus der Universale Bau die Swietelsky Bau. Der Einfachheit halber wird der Großteil der Professionisten mit neuen Verträgen auf der Baustelle belassen und das Spiel geht weiter. Große Erleichterung allseits. Und Hand aufs Herz: Ohne einen ausgebufften Bauträger an unserer Seite wären wir an dieser Stelle an der rechtlichen, technischen und verhandlungstaktischen Komplexität der Angelegenheit gescheitert.
Krise Numero 2:
Aber wer glaubt, jetzt wären wir durch, hat sich getäuscht. Drei Wochen vor dem Übergabetermin kommt es noch einmal knackedick: Der Mega GAU steht bevor, oder?
Mitte November 2013. Die Großgruppe, etwa 60 Vereinsmitglieder, trifft sich. Im Laufe der Besprechung zeigt sich,
• dass nach zweijährigen, zähen Verhandlungen der Kaufvertrag noch nicht bis zur Unterschrift gereift ist,
• dass eine bereits erteilte Finanzierungszusage plötzlich zurückgezogen wird und bei der anderen Bank die Finanzierung zwar ausverhandelt, aber noch nicht fix ist,
• und dass zu allem Überdruss der Generalunternehmer den Termin der Übergabe- und damit des Einzugs vor Weihnachten plötzlich nicht mehr garantieren kann.
Nach 4 Jahren Zentimeter vor der Ziellinie scheitern? Betroffenheit. Was tun, wenn wir kaufen können, aber nicht rechtzeitig flüssig sind? Was tun, wenn wir zwar flüssig sind aber nicht einziehen können? Unsere Wohnungen sind verkauft oder gekündigt. Meinungsrunden im Kreis herum. Egal wie es kommt, wir werden damit umgehen. Alternativen werden genannt: Plan B, Plan C, Plan D.
Vertrauen wird ausgesprochen. Wir haben bisher alle Hürden genommen, Zuversicht entsteht. Im Moment der größten Herausforderung gehen wir jeder für sich gefasst und entschlossen heim.
Ende gut alles gut – step by step. Kaufvertrag ohne gesicherte Finanzierung unterschrieben, alle Ungereimtheiten zwischen der deutschen und österreichischen Rechtslage rechtzeitig von engagierten Anwälten aufgelöst, Finanzierung vom Vorstand der GLS Bank letztendlich genehmigt, Kaufpreis am letzten Tag dem Treuhänder überwiesen, Einzug um einen Tag verschoben. Der Mega GAU war abgewendet.
Die Erfüllung:
Am 20. Dezember 2013 ziehen viele ein. Der Chronist schweigt über die Details. Nur ein Bild: Ein siebenstöckiges Haus. Der Aufzug spinnt. Ein dutzend Übersiedlungstrupps versucht gleichzeitig ihre LKWs in ein 100m² großes Foyer zu entladen…….
Die Wohnungen sind leidlich fertig gebaut, die Gemeinschaftsräume spotten jeder Beschreibung. Das hindert uns nicht daran, tags darauf in der Gemeinschaftsküche ohne Geräte, ohne Wasser und Strom ein grandioses Menu für 80 Personen zu kochen und hemmungslos zu feiern. So wie wir davor und danach viel gefeiert haben! Ganz so, wie wir es bei Dragon Dreaming gelernt haben.
Und jetzt?
Ein Jahr später, im Februar 2014. Ja, das Haus ist fertig gestellt, die Baumängel sind behoben. Die Gemeinschaftsräume leben. Wir sind erschöpft, aber glücklich: Es war eine unglaubliche Anstrengung nötig, die individuellen Wohnungen einzurichten, die Gemeinschaftsräume fertigzustellen und ins Leben zu küssen, den inneren Umbau von einer Planungsgruppe zu einer Wohngruppe zu bewältigen und ganz nebenbei auch noch damit fertig zu werden, dass man nicht mehr anonym wohnt, sondern in einem 7-stöckigen Dorf lebt. Es ist großartig und gleichzeitig ist vieles neu und ungewohnt, vieles muss erst erdacht und probiert werden. Inzwischen hat sich vieles stabilisiert und konsolidiert, ich erlebe eine unglaubliche Selbstverständlichkeit, als ob es immer so gewesen wäre. Für mich persönlich ist es die größte Veränderung in meinem Leben – es ist einfach nicht mehr wegzudenken.
Der Strich drunter:
Dann stellt sich natürlich immer die Frage: „Warum tut man sich das an? Lohnt sich das?“ Immerhin haben wir in der Planungsphase gemeinsam gezählte 23.000 Stunden ehrenamtliche Arbeit hineingesteckt, damit es ist, wie es ist.
Wir haben im ersten Jahr ungefähr 4.000 Menschen durchs Haus geführt. Wir sind ein Leuchtturm für städtisches, gemeinschaftliches Wohnen geworden.
Das Haus hat in den letzten Monaten zwei große Preise verliehen bekommen:
Den Mobilitätspreis 2014 des Verkehrsclubs Österreich für unser Mobilitätskonzept mit Carsharing
Den Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit. Aus der Laudatio: „ Das Haus ist eine Lichtgestalt im österreichischen Wohnbau der letzten Jahre.“
Wir beweisen: Es ist anders möglich. Wir beweisen: Träume können wahr werden. Andere Wohnbaugruppen kommen zu uns, um Kraft, Zuversicht und Knowhow zu tanken. Wir teilen gerne, so wie andere davor mit uns geteilt haben.
Der Tenor aller Besucher*innen schwankt zwischen Verblüffung, Begeisterung und Staunen. Denn: wir leben nicht in einer ländlichen Idylle, das Haus ist für Wiener Verhältnisse megaurban gelegen: Neubaugebiet, zwar an einem großen Park, aber von 7-stöckigen Bauten umzingelt. Da ist kein barocker Habsburgercharme drinnen, da ist auch kein Fuzel ländliche Romantik dran. Wir leben wie unsere Besucher: städtisch. Da kann und muss man vergleichen.
Der besondere Witz bei Führungen ist der: Man führt eigentlich nur durch die Hardware, das Haus, aber die Software, der Geist der Gemeinschaft ist für alle spontan fühlbar. Das ist vermutlich auch der Grund, warum sich unsere Veranstaltungsräume wie von selbst mit externen Mietern füllen: Die Menschen erleben den Spirit, der durch das Haus pulsiert und fühlen sich angezogen. Dazu zur Illustration zwei Geschichten, beide am gleichen Tag erlebt.
Über eine Internet-Kaufplattform kommt ein Käufer für einen Kindersitz ins Haus. Während der Verkäufer den Sitz aus dem Keller holt, wartet der Käufer im Foyer des Hauses. Der Kauf wird abgeschlossen. Zuletzt fragt der Käufer: „Gellns, das ist kein normales Haus, oder?“
Ein Handwerker ist im Haus, um in einer Wohnung zu arbeiten. Er hat länger zu tun, kommt auch ein bissel rum. Am Schluss fragt er den Nutzer der Wohnung: „Gellns, das ist kein normales Haus, oder?“ Unser preußischer Mitbewohner fragt zurück: „ Woran machen sie das fest?“. Der Handwerker sagt: „Na ja, die Leute kennen sich alle, die reden freundlich mit mir, das ist ja ganz anders als sonst immer.“
Wahrscheinlich sind wir wirklich kein normales Haus, aber ich finde das ganz ok. Für mich sind die beiden Beispiele deswegen so signifikant, weil in beiden Fällen Menschen, die mit der Vorstellung in ein ganz normales Haus zu kommen, beobachten. Und es fällt Ihnen was auf.
Zum Abschluss das Statement meines 88-jährigen Vaters, der meine Führung durch das Haus mit seiner Videokamera begleitet hat: „Eine tolle Wohnqualität, aber für mich wär es nichts.“ Da hat er wahrscheinlich Recht. In beiden Punkten.